Bernhart Schwenk

Auf dem Umweg liegt die Erkenntnis

Gedanken zu den Videos von Yvonne Leinfelder

 

Ein weißes Kaninchen war es, welches das Mädchen Alice neugierig gemacht und in jenes Wunderland gelockt hatte, das der Engländer Lewis Carroll 1865 in seinem berühmten Buch beschrieb. In der Höhle des Kaninchens, tief unter der Erde, fand Alice eine traumartige Wirklichkeit vor, anders als die, von der das Mädchen geglaubt hatte, es sei die einzig denkbare. Was vormals groß erschien, war hier klein, was gefährlich wirkte, entpuppte sich als harmlos – und umgekehrt. „Im Wunderland ist alles genau anders herum“, berichtete Alice nach der Rückkehr ihrer Katze Dinah. Man könnte auch sagen: Nichts ist so, wie es unmittelbar erscheint.

Ein weißes Kaninchen spielt auch in Yvonne Leinfelders Video „Yoma“ die Hauptrolle. Fast die Hälfte des ansonsten dunklen Bildfelds nimmt das unschuldig weiße Fell des kleinen Tiers ein. Im Profil ist es zu sehen, sein großes dunkles Auge blickt den Betrachter treuherzig an. Heftig aufeinander einredende Stimmen und Geräusche sind zu vernehmen, und das Kaninchen scheint zusammenzuzucken, wenn diese lauter werden, sich manchmal gar abzuwenden. Fast könnte man meinen, der Anblick des offenbar dramatischen Geschehens spiegele sich in seinem kleinen Gesicht wider. Aber das ist zweifellos reine Projektion – und gleichzeitig genau richtig beobachtet.

 

In Carrolls „Wunderland“ wie in „Yoma“ stellt sich die Frage nach der wahren Rolle des weißen Kaninchens. Ist es wirklich Protagonist der Handlung – oder ist es nicht vielmehr ein Katalysator des Geschehens, ein Medium? Spielt sich das so genannt ‚Eigentliche’ nicht auf einer anderen Ebene ab? Im Fall von „Yoma“ ist diese Frage klar zu beantworten: Als Ort des lauten Geschehens – oder was davon zu sehen ist – erweist sich überraschenderweise die dunkle, kreisrunde Iris des Kaninchens. In ihr spiegelt sich die Handlung eines zweiten Films mit schnell geschnittenen Bildern, starken Farbkontrasten, auf ein winziges Maß verkleinert und naturgemäß konvex verzerrt. So wie Carrolls Kaninchen Alices Abenteuer erst ermöglicht, wird das Kaninchen aus „Yoma“ zum Medium für den Eintritt in eine andere Realität. Das Auge des Kaninchens ist für den Betrachter kein Sehorgan mehr, sondern verwandelt sich in ein Instrument der Bilderzeugung. Es vollzieht eine Umkehrung des gewohnten Sehens, die Reflektion wird die Basis für eine neue Wahrnehmung, der Umweg des Blicks führt zu einer neuen Erkenntnis.

Wie in Platons Höhlengleichnis ist der Standpunkt des Betrachters dabei fixiert: Dieser steht mit dem Rücken zur Lichtquelle, wo er den Ursprung der Bilder vermutet. Platon zufolge ist jeder sinnlich wahrnehmbare Gegenstand bloßes Abbild, dem ein ideelles Urbild zugrunde liegt. Was auch immer wir sehen – es ist stets ein unvollkommenes, ausschnitthaftes und indirektes Bild, der Schatten einer Welt, welche der antike Philosoph als die wahre, wirkliche ansah. Die einzige Möglichkeit, sich dem Nicht-Sichtbaren anzunähern, besteht somit darin, starr auf die schwach erleuchtete Höhlenwand zu blicken – die in „Yoma“ ein weißes Kaninchenfell ist –, um auf diese Weise zu versuchen, das Geschehen zu identifizieren. Bedeutung erhält dabei auch das Streulicht, dessen Farben sich auf dem blütenweißen Fell des Kaninchens widerspiegeln und unterschiedliche Eindrücke suggerieren. Die sich durch Bild- und Farbwechsel verändernde Oberfläche wird somit – neben der Iris – zu einer zweiten Wahrnehmungsebene, die das Auge des Betrachters begierig verarbeitet, zum Gradmesser für Stimmungswechsel, Bewegung, Dramatik.

 

„Yoma“ heißt Yvonne Leinfelders Videoarbeit, und genau so heißt auch der japanische Zeichentrickfilm, den der Betrachter indirekt sieht und hört – ein so genanntes „Anime“ (von engl. „animation“). „Animes“ gehen häufig auf gezeichnete „Mangas“ zurück, was, wörtlich aus dem Japanischen übersetzt, „unzuverlässige Bilder“ heißt. Ebenso ‚unzuverlässig’, sprich ungewohnt vielschichtig, sind auch die Bildebenen, denen die Betrachter von Leinfelders Video gegenüber stehen, die Sinneswahrnehmungen lassen eine nur vage Deutung des Gesehenen zu. Doch genau dabei entsteht eine neue, eigene Bildqualität, die der individuellen Imagination.

Im Unterschied zu dem stark bewegten Zeichentrickfilm, der sich im Auge des Kaninchens spiegelt, bleibt Yvonne Leinfelders Kamera statisch. Sachlich nimmt sie auf, was sich vor ihr ereignet, ohne Schnitte oder andere Manipulationen. Diese objektiv erscheinende Zeitebene wird mit den gerafften und dramatisierten Abläufen des Trickfilms kombiniert und lässt in der Parallelführung beider Erzählarten die fiktionalen Qualitäten des Dokumentarischen wie auch die Authentizität des Artifiziellen deutlich werden. Eine Schlüsselfunktion bei dieser Erkenntnis kommt dem Licht zu. Denn für die Bewertung des Gesehenen erweist sich nicht als entscheidend, welcher Gegenstand in Szene gesetzt ist, sondern in welchem Licht er erscheint.

Auch in „Leazes Park“, einer früheren Videoarbeit von Yvonne Leinfelder, spielt der Zusammenhang von Licht und Zeit eine zentrale Rolle. Schauplatz ist eine baumbestandene Wiese an einem Frühlingsabend. Genauer gesagt, werden die letzten acht Minuten der Abenddämmerung gezeigt. Der Bildaufbau der Komposition mit Vorder-, Mittel- und Hintergrund entspricht dem eines klassischen Landschaftsgemäldes, und gleichermaßen scheint die Farbigkeit den Prinzipien der Malerei zu folgen. Wie in „Yoma“ wird das Medium des Films ‚regelwidrig’ zur Demonstration eines Standbilds eingesetzt. Doch nein: das Bild verändert sich. Ganz langsam – gewissermaßen in Echtzeit – sinkt die Dunkelheit auf die Wiese herab, bevor nacheinander die violetten Lampen entlang eines Weges angehen. Leise Geräusche begleiten das suggestive Bild einer ansonsten friedlichen Stille. Hin und wieder ist ein Vogel, bisweilen auch das Rascheln der Blätter zu hören. Lediglich ein merkwürdiges Knistern, ein rhythmisches Mahlen irritiert. Erst im Verlauf des Films wird das Geheimnis dieses Geräuschs gelüftet: Als dessen Quelle entpuppt sich eine grasende Kuh, die von rechts im Bild erscheint, stehen bleibt und in die Kamera schaut. Aus diesem Schauen erwächst ein ‚Sich-erkannt-Fühlen’ des Betrachters, ein fast komisches Gefühl gegenseitiger Identifikation. Die Kuh gleicht somit der klassischen Reflektionsfigur, wie sie die Kunst seit der Renaissance bewusst einsetzt – um die Sphäre des Bildes mit der Realität verschmelzen zu lassen. Der Blick des Betrachters auf das Bild wird auf diese Weise mit dem Blick in einen Spiegel gleichgesetzt.

Spätestens mit diesem unerwarteten Auftritt der Kuh stellt sich die Frage nach den Anteilen von Inszenierung und Zufall in diesem Film, die aus der reinen Anschauung heraus wohl kaum eindeutig zu beantworten ist. Doch auch in diesem Fall ist anzunehmen, dass die ‚Handlung’ ein komplexes Geflecht aus Artifizialität und Natürlichkeit darstellt, in der das Echte, das Unechte, das Unverfälschte und das Manipulierte nicht mehr voneinander zu trennen sind.

 

Jahrhundertelang bestimmte die Symbolik von Licht und Finsternis jenen Prozess, in dessen Abhängigkeit der Entwicklungsstand der Kulturen gemessen wurde. ‚Aufklärung’ genannt, wurzelte dieser Prozess in der Philosophie der Renaissance und erlebte seinen Höhepunkt in der Gedankenwelt um 1800. Erst das 20. Jahrhundert begann, die Eindeutigkeit des Begriffs in Frage und dessen Dialektik in den Mittelpunkt zu stellen. Die kritische Analyse der modernen gesellschaftlichen Verhältnisse ließ an die Stelle des aufklärenden Lichts die Metaphern der Dämmerung sowie der Verfinsterung treten. In diesem Sinne muss die stetige Abnahme des natürlichen Lichts bei gleichzeitiger Zunahme des künstlichen in „Leazes Park“ als metaphorisch angesehen werden, allerdings tritt hier der klare Kontrast zwischen Dunkelheit und Erleuchtung, Ahnung und Erkenntnis, Erwartung und Enttäuschung zurück. Diesen polyvalenten, nachmodernen Umgang mit dem Licht und seiner Metaphorik führt eine andere Videoarbeit von Yvonne Leinfelder weiter aus. Der wahrnehmbare Bildraum ist dort auf einen Ausschnitt reduziert – einen horizontalen „Spalt“, wie der Titel des Werks schnörkellos angibt. Es ist dunkel, der Blick versperrt, das Szenario undurchdringbar und nicht einschätzbar. Kein Wunder, dass die ersten Assoziationen des Betrachters mit ungegenständlichen, nicht-illusionistischen Phänomenen zusammenhängen. Vergleiche mit technischen Signallinien auf Bildschirmen, wie sie in der Kardiographie zu beobachten sind, bieten sich an, ebenso könnte man an Effekte, auch fehlerhafte, bei der Zeilenfraktionierung denken. Auch Reminiszenzen an Experimentalfilme der 1960er Jahre klingen an. Dabei liegt „Spalt“, wie den meisten Arbeiten von Yvonne Leinfelder, eine authentische Abfilmung des Realen zugrunde. Wie die Hintergrundgeräusche verraten, handelt es sich um die Begrenzungsmauer einer Autobahn, durch deren geschlitzte Öffnung das Scheinwerferlicht vorbeisausender Autos einfällt. Gleichwohl bleiben weitere Lichteffekte rätselhaft, und es könnte sein, dass eine befriedigende Erklärung hierfür ausbleibt.

 

Die Bildwelt von Yvonne Leinfelder erscheint abgewandt von allem Vertrauten. Bisweilen fühlt sich der Betrachter ins Land „Hinter den Spiegeln“ versetzt, in welches Lewis Carroll seine Alice auf einer zweiten Reise sandte, um sie spüren zu lassen, wie es ist, wenn die gewohnte Ordnung von Zeit und Raum auf den Kopf gestellt ist. Und doch gibt es in dieser hermetisch wirkenden Parallelwelt stets Indizien, die einen Rückweg in die vermeintliche Erstwelt erlauben – wie einst Ariadnes Faden. Dies führt zum Beispiel die derzeit jüngste Arbeit von Yvonne Leinfelder, die Fotografie „Ferrari“, exemplarisch vor. Auf fast mystische Weise wird hier der Sportwagen der Sehnsüchte in seinem legendären Rot präsentiert, das Auge lässt sich von der Sphäre des eleganten Luxus und perfekt glänzender Oberflächen verführen, berauscht sich an Geschwindigkeitsphantasien. Erst die gleichfalls roten Felgen lassen erahnen, dass es bei diesem Eindruck nicht mit rechten Dingen zugeht. Das Bild bzw. seine märchenhafte Farbigkeit ist eine Täuschung und hat den Blick aufs Glatteis geführt. Allerdings ist keine digitale Manipulation hierfür verantwortlich – wie dies in Yvonne Leinfelders früher Fotoserie „Häuser und Pferde“ noch der Fall war, bei der die Künstlerin Fenster und Tiere verschwinden ließ. Die Ausstrahlung des „roten“ Automobils unterliegt einem gänzlich analogen Kunstgriff: Die Beleuchtung des eigentlich silbernen Wagens mit rotem Licht imprägniert das komplette Szenario und entrückt es auf einfachste Weise. Trotz dieses Wissens ist dem Bild nun nicht mehr zu trauen, und wie Alice erscheint einem die Erstwelt nicht mehr dieselbe zu sein, selbst wenn man die dunkle Höhle des weißen Kaninchens wieder verlassen hat.

 

 

Bernhart Schwenk

1960 geboren in Wiesbaden

1982-1991 Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Archäologie in Mainz, Köln und Bonn. Dissertation über Blinky Palermo

1991-1993 Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main

1993-2001 Ausstellungskurator, Haus der Kunst München

ab 2002 Konservator für Gegenwartskunst, Pinakothek der Moderne, München